Date: Mon, 6 Nov 2006 22:45:16 +0100
Liebe Muminbegeisterte allüberall (über 150 an der Zahl, reim-dich-oder-ich-fress-dich),
wieder einmal ein Rundbrief... Bitte wie immer nach Belieben ab- bzw. andere anmelden, sofern gewünscht.
Ich mache diesmal viel von meinem Kürzelsystem Gebrauch; dessen Erklärung ist hier: http://www.zepe.de/mumin/mumb.php
Vorbemerkung: Die bis Mitte der 1950er-Jahre geschriebenen Muminbücher ([LR], [KM], [DG], [MJ] und [SM]) sind an Kinder gerichtet. In Tove Janssons Schaffen folgte bis zum Ende des Jahrzehnts die Anfertigung der Mumincomics; bereits 1957 merkt man den Episoden an, dass ihr dies eine zunehmende Last war, und im selben Jahr erscheint mit [WM] auch das erste deutlich »andere« Muminbuch – Mumin beginnt erwachsen zu werden. [KF], das 1960, also unmittelbar nach Abgabe der Comicserie an Lars Jansson erschien, hat zum ersten Mal einen Nicht-Mumin zum Protagonisten – die Autorin musste wohl Abstand zu ihrem Troll gewinnen. 1963 folgen mit [GM] weitere Kurzgeschichen, die sich teilweise ebenfalls anderen Geschöpfen zuwenden; insgesamt werden die Bewohner des Mumintals immer menschlicher in ihrer Psychologie. 1965 bricht dann mit [MI] die Krise über den bislang überwiegend harmonischen Trollkosmos herein, und das Mumintal wird verlassen...
Das Jahr 1968 muss für Tove Jansson sehr arbeitsam gewesen sein. Die drei Bücher [KM], [DG] und [MJ] erschienen in überarbeiteter, besser aufeinander abgestimmter Form ([SM] folgte im Jahr darauf), außerdem kam als Neuigkeit in ihrem Schaffen das erste »Erwachsenenbuch« heraus: »Die Tochter des Bildhauers« (E68), worin wir Szenen aus der Kindheit der Autorin zu einem Kaleidoskop von inneren und äußeren Motiven ausgebreitet finden, die in ihrer Gesamtheit auf fast erschreckende Art zeigen, wie stark autobiographisch die Muminbücher beeinflusst sind.
Das Buch ist in 19 Kapitel gegliedert, die auf jeweils wenigen Seiten in sich abgeschlossene Begebenheiten erzählen. Diese spielen sich in den 1920er-Jahren in der Künstlerfamilie Jansson ab, in einer Welt zwischen Stadtatelier, Landhaus und anderen Orten, die in verschiedenem Maße in der Muminwelt verarbeitet wurden.
In ihrer Kindheit muss Tove Jansson am ehesten der Kleinen My geähnelt haben, während in ihrem zwischen Bürgertum und Bohème schwankenden Bildhauer-Vater deutlich Muminpapa, in ihrer defensiven und bedingungslos liebevollen Illustratorinnen-Mutter oft Muminmama zu erkennen ist. Die kleine Tove schläft ganz My-artig oben auf einem Schlafregal, werkelt emsig an eigenen geheimen Vorhaben und phantasiert davon, sich so winzig zu machen, dass sie in eine Jackentasche passt.
In einem linkischen Geologen treffen wir eine klar hemulische Figur, in den vermehrungsfreudigen Kanarienvögeln mit 19 einander rupfenden Jungen die Mymla-Großfamilie, in der Beschreibung eines flüsternd-wogenden Schilfgürtels die Hatifnatten, in der manisch-phobischen Tante eine Filifjonka wieder. Eine Fülle von Einzelmotiven rundet das Bild ab: das großväterliche Haus mit Veranda in einem Tal mit Meerzugang, die Höhle mit Sandboden, eine Morra-geeignete Eisinsel, Winterschlaf mit Tannennadeln im Bauch, das Verbrennen von Filmstreifen mit lupengebündeltem Sonnenlicht, die Angst vor Parkwächtern, alkoholische Meeresfunde, Visionen großer Katastrophen, Rindenschiffchen, steigendes Wasser nach einer Hitzewelle, pathetisches Theaterspiel, fremdartige Winterlandschaften mit erstmals nicht verfügbarer Mutter – um nur wenige zu nennen. Eindeutig hat Tove Jansson in diesem Buch bewusst ihr gesamtes in den Muminbüchern verwendetes Motiv-Arsenal offengelegt.
Neben den bekannt wirkenden Einzelheiten lässt Tove Jansson in zahlreichen Andeutungen künstlerisches Spezialwissen durchblicken, das ihr bereits als Kind zu eigen war. Die Prioritäten und Verhaltensweisen des kreativ begabten Menschen wurden zu einem wichtigen Bestandteil ihrer späteren Erwachsenenbücher, sind in den Muminwerken aber nur selten thematisiert.
Das vielleicht wichtigste in diesem wie in vielen anderen Büchern behandelte Thema ist das Entstehen von »Realität« durch genügend starke Imagination bzw. wiederholtes Aussprechen – wie es auch der Homsa Toft in [HM] noch einmal vorführen wird. Das Erwünschte, aber auch »das Gefährliche« kann zu bedeutender Größe wachsen, wenn man ihm Gedanken und Worte widmet. Hingegen wird es durch Anfertigung einer Zeichnung gebannt. Dass die Muminbücher stets aus Text und Bild bestehen, die Erwachsenenbücher hingegen unillustriert blieben, ist vor diesem Hintergrund als Zeichen einer psychischen Weiterentwicklung der Autorin zu Befreiung und neuer Stabilität zu deuten.
In den hinteren Kapiteln werden die Geschichten unabhängiger in ihrer Motivik – äußeres Zeichen eines allmählichen »Freistrampelns«. Im Schlusskapitel (wie in [GM] eine Weihnachtsgeschichte) wird allerdings noch einmal ein wahres Muminmotiv-Feuerwerk abgebrannt – und dann ist der Vorrat verbraucht: 1970 erschien mit [HM] das letzte Muminbuch, und es kommt ohne Muminfamilie und Kleine My aus – das Tal ist still und verlassen...
Das Buch erreichte die deutsche Leserschaft in den 1980er-Jahren als Taschenbuch bei Rowohlt, übersetzt durch Birgitta Kicherer. Leider ist es vergriffen, aber über Antiquariate kommt man verhältnismäßig leicht heran. Wärmste Empfehlung, schon alleine wegen der vielen feinen psychologischen Beobachtungen und Erkenntnisse, die der Text bereithält.
Verspätet wurde ich aufmerksam auf das Buch »Tove Jansson – mycket mer än Mumin« (»T. J. – viel mehr als Mumin«), geschrieben von Christina Björk und erschienen im Schildts förlag (Helsinki) 2004.
Dieses offenbar zur Zeit vollständigste Buch über Tove Jansson widmet sich sowohl ihrem Leben als auch dem Gesamtwerk, was die Erwachsenenbücher ebenso einschließt wie das zeichnerische und malerische Schaffen. Ich bin noch dabei, das Buch zu besorgen.
Wie im vorigen Rundbrief bereits bekannt gegeben, erschien, gelesen von Dirk Bach, »Die Mumins – eine drollige Gesellschaft« ([DG]) als Hörbuch im Patmos-Verlag.
Schauspieler und ihr Handwerk... als Laie darf ich mich da wohl nicht einmischen, aber ich frage mich schon, weshalb Dirk Bach den ersten Satz so liest:
An einem grauen Morgen fiel der erste Schnee im _Mumintal_.
Ich habe andere Leute gefragt, wie sie es lesen würden, und übereinstimmend war die Antwort:
An einem grauen Morgen fiel der erste _Schnee_ im Mumintal.
Ich komme nicht dahinter. Danach geht es auf voller Länge des Hörbuchs mit derartigen Betonungsüberraschungen weiter, woran ich mich sehr gewöhnen musste; aber wie gesagt bin ich kein gelernter Sprecher oder gar Schauspieler, und vielleicht muss das ja alles tatsächlich so sein. Eindeutig »falsch« ist nur die Aussprache HEmul statt HemUl (wie Barbara Auer es auch schon hielt).
Ansonsten kann ich Dirk Bach keine Vorwürfe machen, im Gegenteil: er liest den Text locker und und vielfarbig weg, bleibt stets humorvoll und abwechslungsreich im stimmlichen Ausdruck und hat hörbaren Spaß an der Sache, der sich auch überträgt. Lediglich seine Charakterisierung des Schnupferichs gerät hart in die Nähe einer logopädisch behandlungsbedürftigen »Chprech-Chtörung« und kommt bei weitem nicht so cool rüber, wie ich diese Figur gerne im Ohr hätte. Die Liedzeile »Alle kleinen Tiere tragen Schleifen am Schwanz« singt Dirk Bach mit einer kecken Synkope – Hut ab, wenn dies sein eigener melodischer Einfall war.
Im Gegensatz zu den beiden im »Hörverlag« herausgekommenen Aufnahmen von [LR] und [KM] ist in dieser Aufnahme nicht der gesamte Text zu hören, sondern eine gekürzte Lesefassung, die von Regisseur Thomas Krüger selbst erstellt wurde. Wie funktioniert so eine Kürzung? Bis weit über die Hälfte hinaus werden einzelne Absätze weggelassen, die inhaltlich eher stark abschweifend sind. Inwiefern die hierdurch erhöhte Zielstrebigkeit der Erzählweise den Charakter des Buches verfälscht, muss letzlich jede(r) für sich entscheiden; ich kann es in einer Hörfassung akzeptieren, hätte mich aber über eine Komplettlesung (die dann eine CD mehr gebraucht hätte) vielleicht noch etwas mehr gefreut. Erst weiter hinten im Buch wird einmal ganz kräftig gekürzt: die gesamte Episode, in der das Muminhaus zum Dschungel wird, fällt diesem Schnitt zum Opfer.
So füllt der Text zwei CDs und ist in Tracks aufgeteilt, die sich meistens eng an den Kapiteln orientieren. Die Gesamtzeit beträgt knapp 3 Stunden. Vorangestellt ist ein kurzes, burleskes Musikstück, in dem ein Krummhorn über einer Fagott-Linie konzertiert. Woher diese Musik stammt, wird leider nirgends genannt. Außer einem Kuckuck sind sonst keine weiteren Geräuschzutaten zu vermelden.
Die Doppel-CD kommt freundlich-hell gestaltet in einer transparenten Standard-Hülle daher. Das Beiheft enthält unter anderem Auszüge aus dem »Muministischen Lexikon«. Eine Vorschau ist unter (Link nicht mehr vorhanden) einzusehen, erhältlich ist das gute Stück in jeglichem Buchhandel. Der Preis beträgt 14,95 €.
Zusammenfassung: Mit dieser insgesamt sehr gewissenhaften und schön gelungenen Produktion hat der Patmos Verlag sich auf jeden Fall einen Platz in der muministischen Ruhmeshalle erworben. Ich hoffe sehr, dass bald weitere Mumin-Bücher in Angriff genommen werden. Einstweilen bleibt mir, diese Doppel-CD allseits zu empfehlen. Weihnachten steht ja auch schon wieder vor der übernächsten Tür...
Neu im VMFZ ist die Seite »Werkübersicht« (http://www.zepe.de/mumin/werk.php), auf der auszugsweise sichtbar wird, zu welchem Zeitpunkt sich Tove Jansson womit befasste. Dafür entfiel die schon recht angejahrte Seite »Sprachenvergleich«, deren Informationen nach und nach auf die Einzelseiten über die verschiedenen Bücher übergehen werden, sofern noch nicht geschehen.
Angehängt ein Bild eines spanischen Salzfasses – lässt sich unser Lieblingstroll da gemütlich im Meer treiben?
Damit mal wieder beste Grüße
von Zépé
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