Zépé's Virtuelles Muminforschungszentrum
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Muministischer Rundbrief Dezember 2009

Date: Sat, 26 Dec 2009 21:46:46 +0100

Geehrte Mumin-Freundinnen und -Freunde,

Übersetzung ist ein seltsames Geschäft. Nicht nur Sprache, sondern Kultur will irgendwie übertragen werden. Dabei ist Sprache allein schon unmöglich genug. Bereits kleinste Bedeutungsüberschneidungen oder -unterschiede irgendwelcher Wörter und Ausdrücke können eine Übersetzung einer Stelle erschweren oder gar komplett unmöglich machen.

Die Schwierigkeiten türmen sich zu noch größerer Höhe, wenn folgende Faktoren ins Spiel kommen:

Tja, jede Übersetzung ist Nachschöpfung. Warum die längliche Einleitung? Nun, es hat viel mit zwei neu erschienenen Mumin-Übersetzungen zu tun, die ich nunmehr besprechen möchte.

Mumins 2

Bei Reprodukt erschien im September der zweite Band der neu übersetzten Gesamtausgabe der Mumin-Comics von Tove Jansson.

Das Buch selbst ist nicht anders als eine Pracht zu nennen: sorgfältige Fertigung und edle Materialien ergeben einen hervorragenden Gesamteindruck. Allein das satte Geräusch, wenn man die überdurchschnittlich dicken, dezent dunkelweiß und subtil faserig gewählten Papierblätter am Daumen vorbeiflippen lässt, kann süchtig machen. Diese Ausgabe überflügelt die ebenfalls schon edel geratene englischsprachige Ausgabe von Drawn&Quarterly in Sachen haptischer Freude noch ein gutes Stück. Dazu der blitzsaubere Druck, das wohlgeratene Hand-Lettering (Michael Hau; wenn möglich sogar noch eine Spur besser integriert als in Band 1), der schöne Satzspiegel und die Halbleinenbindung: der Band wäre schon fast unabhängig vom Inhalt jeden Cent wert.

Und doch beginnt hier das muministische Vergnügen erst! Enthalten sind nämlich Tove Janssons Comic-Episoden Nummer 5 bis 8 von 1955/56:

Diese vier Episoden sind sämtlich umwerfend komisch, dabei weniger chaotisch-überbordend, sondern deutlich straffer erzählt als die ersten vier Folgen aus dem ersten Band. Genauere Inhaltsangaben finden sich bekanntlich auf der Comic-Seite im Virtuellen Muminforschungszentrum:

http://www.zepe.de/mumin/comi.php

Wie in Band 1 wurden die Texte auch hier von Annette von der Weppen neu ins Deutsche übertragen. Mit Paul Scholz und Matthias Wieland stehen hier aller- und neuerdings zwei weitere Namen auf der Liste der Übersetzer (in Band 1 waren die beiden noch unter »Redaktion« zu finden), so dass es nun mehr nach einer Gemeinschaftsleistung aussieht, wie immer sie konkret verteilt gewesen sein mag.

Wie liest sich die Neuübersetzung nun? Bei meiner Besprechung von Band 1 (vgl. Rundbrief vom Dezember 2008) hatte ich noch ein wenig über einen kleinen Hang zu allzu salopp-idiomatischen Wendungen geächzt; doch nun hat das Übersetzungs- und Redaktionsteam sich offensichtlich eingependelt. Der Text liest sich lebendig und temporeich und lässt weder Lücken noch Unklarheiten aufkommen. Zuweilen blitzt wohltuend eine kleine sprachliche Frechheit auf, aber das ist nötig und stets im akzeptablen Bereich.

Hier nur ein Beispiel (Muminvater bereut die Schnapsbrennerei, Stinki fängt die weggeworfenen Flaschen):

Zuletzt ist dieser Band auch etwas Besonderes, weil meine Wenigkeit das Nachwort beisteuern durfte, Titel: »Die Erscheinungsgeschichte der Mumin-Comics im deutschen Sprachraum«. Bin mächtig stolz :-)

Mumins 2: Die gesammelten Comic-Strips von Tove Jansson
Reprodukt
Berlin 2009
ISBN 978-3-941099-24-3
24,00 €

Wer tröstet Toffel?

Ebenfalls im September erschien im »leiv Leipziger Kinderbuchverlag« das zuletzt vor fast 50 Jahren auf Deutsch verlegte Bilderbuch vom Winzling, der sich schüchtern durch die Muminwelt schleicht, um plötzlich doch eine große Heldentat zu begehen. Der Originaltitel des Buches »Vem ska trösta knyttet?« wurde damals mehr schlecht als recht als »Wer soll den Lillan trösten« wiedergegeben; in der Neuausgabe heißt der Band nun »Wer tröstet Toffel?« (KF), wobei die Benennung der Titelfigur sich am englischen Übertragungsversuch orientiert. Eigentlich ist ein »Knytt« eine Art Winzling, ein »Kleinzeug«, von denen es in der Muminwelt bekanntlich massenhaft gibt.

Das Buch erschien 1960, also drei Jahre nach dem Winter-Buch WM, in welchem der Mumintroll erstmals allein klarkommen musste und die Muminbücher sich von Kinderabenteuern zu psychologischen Dramen zu wandeln beginnen. Gleichzeitig weist das Toffel-Buch auf das 1963 erscheinende »Geschichten aus dem Mumintal« GM voraus, weil bereits hier erstmals eine Figur außerhalb der Muminfamilie in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Tatsächlich sieht man nur einmal im Hintergrund eines Tanzfestes ein paar Mumintrolle, die nicht weiter an der Handlung teilnehmen – wenn es denn nicht überhaupt Snorke sind...

Tove Jansson arbeitete in diesem Buch mit einer collage-artigen Mischung aus einerseits homogen gefärbten und scherenschnittartig geformten, andererseits handgezeichneten und -schraffierten Flächen. Dabei hatte sie ursprünglich nicht den heute allgegenwärtigen Vierfarbdruck mit feiner Punktrasterung im Sinn, sondern konzipierte die Bebilderung so geschickt, dass mit sechs bis acht echten Druckfarben sehr abwechslungsreiche Doppelseiten erzielt wurden. Diese im Gegensatz zu den schwarzweißen Mumin-Zeichnungen äußerst farbenprächtigen Illustrationen sind in der Leiv-Ausgabe endlich wieder allgemein zugänglich. Das Buch ist gut gefertigt und schön gedruckt.

Und nun bin ich lange genug um den heißen Brei geschlichen und muss auf die Textübertragung zu sprechen kommen. Denn hier wäre, so leid es mir zu sagen tut, sehr viel mehr möglich gewesen.

Das Original ist in Reimen abgefasst. Das Reimschema ist auf allen Seiten gleich:

.O.O.O.O.O.     A
.O.O.O.O.O      B
.O.O.O.O.O.     A
.O.O.O.O.O      B
.O.O.O.O.O      C
.O.O.O.O.O      C
.O.O.O.O.O.O.O  D
.O.O.O.O.O.O.O  D
.O.O.O.O.O.O.O  E
.O.O.O.O.O.O.O  E
.O.O.O.O.O.O.O  F
.O.O.O.O.O.O.O  F

Also durchgehend jambisch-»männlich« (mit Ausnahme der 1. und 3. Zeile, die mit ihrer zusätzlichen unbetonten Silbe »weiblich« enden), und zwar in der ersten Hälfte mit fünf, danach mit sieben Hebungen. Die beiden letzten Zeilen fungieren im weiteren Verlauf als Kehrreim, der in abgewandelter Form immer wieder anhebt »Vem ska trösta knyttet...« (»Wer soll den Knytt trösten«) und so einen Parallelismus schafft.

Nun möchte ich den Charakter der neuen Textübertragung anhand der ersten Textseite deutlich machen. Sie lautet im schwedischen Originaltext:

Det var en gång ett litet knytt som bodde
alldeles ensam i ett ensamt hus.
Han var nog långt mer ensam än han trodde
på kvällen när han tände alla ljus
och kröp inunder täcket i sin bädd
och gnällde för sig själv, för han var rädd.
Därute gick hemulerna med stora tunga steg
långt borta hördes mårrans tjut på nattens mörka väg
och dörrar stängdes överallt och alla lampor brann
hos alla stackars skrämda kryp som tröstade varann.
Men vem ska trösta knyttet med att säga ungefär:
på natten blir det hemska mycket värre än det är.

Das bedeutet knapp und wörtlich:

Es war einmal ein kleiner Knytt, der ganz alleine in einem allein stehenden Haus wohnte. Am Abend war er wohl noch viel mehr allein, als er glaubte, wenn er alle Lichter anmachte und in seinem Bett unter die Decke kroch und vor sich hin wimmerte, weil er sich fürchtete. Draußen gingen die Hemule mit großen, schweren Schritten, weit entfernt hörte man den Schrei der Morra auf den dunklen Wegen der Nacht, und überall verschloss man die Türen und alle Lampen brannten bei allem armen, verängstigten Gewürm, das sich gegenseitig tröstete. Aber wer soll den Knytt trösten, indem er ihm in etwa sagt: In der Nacht wird das Schreckliche noch schlimmer, als es ist.

Die alte Ausgabe im St. Gabriel Verlag (ebenfalls 1960) entsagte dem Reim von Anfang an und machte Folgendes daraus:

Es war einmal ein kleiner Lillan, der wohnte ganz allein in einer einsamen Hütte. Wenn es dunkel wurde, zündete er alle seine Lampen an und verkroch sich unter der Bettdecke, denn er hatte große Angst. Er fürchtete sich vor den Hemulen, die mit schwerem Schritt vorbeigingen, doch noch mehr fürchtete er sich vor der Morra. Wenn ihre grausigen Schreie durch die Nacht schallten, wimmerte er vor Entsetzen. Weit entfernt in den anderen Hütten versperrte man des Nachts die Türen und ließ bis zum Hellwerden die Lampen brennen. Dort trösteten die vielen kleinen verschreckten Wesen einander, so gut es eben ging. Doch wer soll den kleinen Lillan trösten und ihm sagen, dass alles Unheimliche bei Nacht viel grausiger ist?

Also eine sehr inhaltsgetreue Übertragung mit einem leicht ausschmückenden Gestus. Kommt es nur mir so vor, dass der Text durch das fehlende metrische Gerüst aufquillt, quasi dickflüssig wird? Die Leiv-Fassung hingegen lässt den hingeworfenen Handschuh namens »Nachdichtung bitte!« nicht liegen, und so folgt jetzt die neu herausgekommene Reimform:

Wer lebt denn in diesem kleinen Haus? Es ist Toffel; er ist ganz allein.
Der Arme merkt's gar nicht – wie einsam ist's bei ihm daheim.
Draußen hört er Morras schrilles Geheul und Hemuls schwere Tritte.
Nervös zündet er die Lampe an und schleicht ins Bett. Wie leise sind seine Schritte!
Im Wald verschließt ein jeder seine Türen vor der Finsternis
und muntert sich auf mit guter Laune, mit Wärme und mit Licht.
Doch Toffel friert und er ist traurig, denn keinen Freund hat er an seiner Seit'.
Er kriecht unter die Decke; sein Körper zittert vor Angst und Leid.
WER nur tröstet Toffel und sagt ihm: »Komm, mach dir keine Sorgen,
dein Leben sieht bald besser aus. Warte nur auf morgen.«?

Der Beckmesser in mir stellt also erstmal fest: Was Tove Jansson in 12 Zeilen sagt, wird hier in deren 10 wiedergegeben – dies bleibt so durchs ganze Buch hindurch. Das allein wäre nicht schlimm, aber zusätzlich wird der Gesamtbau – wie im Beispiel zu sehen – sehr uneinheitlich: viele überlange Zeilen, zahlreiche Reimpaare mit ungleichen Zeilenlängen und, was am schwersten wiegt, ein ständiger Wechsel der Versfüße innerhalb der Zeilen. Ich bin mir natürlich bewusst, nicht das Maß aller Dinge zu sein, aber persönlich habe ich Freude an metrisch wohlgebauten Zeilen, einem fließend-geordneten Wechsel von schweren und leichten Silben; und ich wage zu behaupten, dass auch Kinder im allgemeinen so empfinden – weswegen sollte man ihnen sonst Verse schmieden?

Ist nun so eine etwas unbekümmert-ausufernde Reimerei sooo schlimm? Nun ja: an einigen Bekannten habe ich die Leiv-Übertragung getestet – und durchgehend ergab sich der Effekt, dass der Inhalt schlicht kaum beim ersten Lesen oder Hören verständlich war. Und das ist natürlich sehr bedauerlich: die Qualität und Stringenz der Vorlage wird ganz offensichtlich nicht annähernd erreicht, und das tut weder dem Werk Tove Janssons, noch den Lesern noch dem Verlag selbst einen besonders guten Dienst. Frustrierend irgendwie. Dazu kommen andere Mängel, wie die Inkonsistenz zu bisherigen Mumin-Übersetzungen. Warum muss man den Schnupferich »Snufkin« nennen? Die Filifjonka heißt auch des öfteren »Filifjonk«. Und weswegen sind die Namen der beiden Protagonisten dauerhaft und penetrant fettgedruckt, ohne dass die Vorlage das hergibt?

Man merkt mir meine Frustration sicherlich an. Aber auch sie war zu etwas gut: ich habe es nun einmal selbst versucht (unsere Mitmuministin Anke-Lu (hej, liest Du das hier? ;-] ) hat mitgewirkt):

Es war einmal ein Toffel, und der lebte
in einem kleinen Häuschen, ganz allein.
Er war so einsam, dass er ängstlich bebte,
er ließ die Lampe an, schlief sonst nicht ein;
im Bett zog er die Decke übern Kopf
und wimmerte, der arme, kleine Knopf.
Da draußen machten die Hemule Schritte groß und schwer,
die Morra rief ihr Heulen durch die Nacht von ferne her;
und keine Tür war offen, und hell brannte jedes Licht –
die Kleinen, Armen, Ängstlichen, so trösteten sie sich.
Wer soll den Toffel trösten und ihm sagen mit Bedacht:
Das Schlimme wirkt doch immer übertrieben schlimm bei Nacht.

Will mich/uns nun nicht selber loben, aber: es *scheint* doch zu gehen...? Ich werde einen Teufel tun und im Rundbrief-Rahmen das Urheberrecht zerdehnen, aber ich bin auf jeden Fall berechtigt, guten persönlichen Bekannten mal den Rest meiner/unserer eigenen Übertragung in aller Unöffentlichkeit zu zeigen.

Ich hoffe sehr, dass der Leiv Verlag, sollte er als nächstes das Bilderbuch »Die gefährliche Reise« [GR] angehen wollen, mehr Sorgfalt walten lässt, denn schwächelnde Ausgaben nützen wie gesagt niemandem.

Tove Jansson: Wer tröstet Toffel?
leiv Leipziger Kinderbuchverlag GmbH
Leipzig 2009
ISBN 978-3-89603-325-3
12,90 €

Damit grüßt bis nächstes Jahr
  Euer aller

Zépé

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